3.7. Uneigentliche Integrale

Unsere Definition des Riemann-Integrals setzt mindestens voraus, dass die zu integrierende Funktion beschränkt und auch in den Randpunkten des Integrationsintervalls definiert ist.

Wir wollen die Frage der Existenz von Integralen diskutieren, bei denen diese Voraussetzungen nicht erfüllt sind.

Insbesondere sollen auch Integrationsintervalle der Form (a,b], [a,b) und (a,b) betrachtet werden.

Dabei kann man am offenen Ende des Intervalls auch a= oder b=+ zulassen.

3.7.1. Definition.

Es sei <a<b+.

Die Funktion f:[a,b)R sei in jedem Teilintervall [a,β][a,b) integrierbar.

Dann heißt f uneigentlich integrierbar in [a,b), falls der Grenzwert

limβb0aβf(x)dx

existiert (als reelle Zahl!).

Erinnerung: limβb0 bedeutet, dass wir das Grenzverhalten untersuchen, wenn β von links gegen b geht
— man könnte auch limβb schreiben.

Man schreibt dann

abf(x)dx :=ab0f(x)dx :=limβb0aβf(x)dx.

Analog definiert man für a<b<+:

abf(x)dx :=a+0bf(x)dx :=limαa+0αbf(x)dx.

— man könnte auch limαa schreiben.

Für a<b+ nennt man f:(a,b)R uneigentlich integrierbar in (a,b), falls es irgendein z(a,b) so gibt, dass die beiden uneigentlichen Integrale a+0zf(x)dx und zb0f(x)dx existieren.

Man setzt dann

abf(x)dx :=a+0zf(x)dx +zb0f(x)dx.

Unsere Voraussetzung, dass f auf allen Teilintervallen [α,z](a,z] und [z,β][z,b) integrierbar ist, sichert die Unabhängigkeit dieser Definition von der Auswahl der Stelle z.

3.7.2. Beispiel.

Das uneigentliche Integral 01011xdx konvergiert:
Es gilt

01011xdx =limβ100β11xdx =limβ10[21x]0β =limβ10(21β+21) =2.

3.7.3. Beispiel.

Die Funktion f:(0,1]R:x1x ist in (0,1] nicht uneigentlich integrierbar, denn es gilt:

limα0+0α11xdx =limα0+0[ln|x|]α1 =ln1limα0+0lnα =+.

3.7.4. Beispiel.

Das uneigentliche Integral +|x|ex2dx konvergiert:

Um dies einzusehen, muss man z wählen und die Konvergenz von z|x|ex2dx und z+|x|ex2dx nachweisen.

Wir wählen z=0 und erhalten

0+|x|ex2dx =limβ+0β|x|ex2dx =limβ+[12ex2]0β =limβ+12(eβ2+1) =12.

Aus Symmetriegründen liefert das linke uneigentliche Integral denselben Grenzwert, und wir erhalten

+|x|ex2dx =0|x|ex2dx +0+|x|ex2dx =1.

Funktionsgraph

3.7.5. Majoranten-Kriterium für uneigentliche Integrale.

Die Funktion f:[a,b)R sei in jedem Teilintervall [a,β][a,b) integrierbar.

Es gelte 0f(x)g(x) für alle x[a,b).

  1. Aus der Existenz von ab0g(x)dx folgt dann die Existenz von ab0f(x)dx, und es gilt

    ab0f(x)dxab0g(x)dx.

    Man nennt g eine integrierbare Majorante oder ab0g(x)dx eine konvergente Majorante.
  2. Umgekehrt folgt aus der Nichtexistenz von ab0f(x)dx die Nichtexistenz von ab0g(x)dx: divergente Minorante.
  3. Jetzt sei f:[a,b)R beliebig.

  4. Existiert ab0|f(x)|dx, so existiert auch ab0f(x)dx, und es gilt |ab0f(x)dx| ab0|f(x)|dx.

3.7.6. Bemerkung.

Wenn ab0|f(x)|dx existiert, nennt man das Integral absolut konvergent.

Man kann das Majoranten-Kriterium damit auch so zusammenfassen:

Die Funktion f:[a,b)R sei in jedem Teilintervall [a,β][a,b) integrierbar.

Gilt |f(x)|g(x) im Intervall [a,b) und existiert ab0g(x)dx, so ist ab0f(x)dx absolut konvergent.

3.7.7. Bemerkung.

Das Majoranten-Kriterium für uneigentliche Integrale gilt völlig analog bezüglich eines links halboffenen Intervalls (a,b] bzw. eines offenen Intervalls (a,b), also für a+0bf(x)dx bzw. a+0b0f(x)dx.

3.7.8. Beispiel.

Das uneigentliche Integral 1+1xγdx konvergiert genau dann, wenn γ>1 ist.

Für γ>1 gilt limβ+[11γx1γ]1β =limβ+(11γ(β1γ1)) =1γ1.

Für γ=1 gilt limβ+1β1xdx =limβ+(lnβln1) =+.

Für γ<1 gilt limβ+[11γx1γ]1β =limβ+(11γ(β1γ1)) =+.

Für den letzten Fall γ<1 wäre auch 1+1xdx als divergente Minorante brauchbar.

3.7.9. Beispiel.

Das uneigentliche Integral 0+011xγdx konvergiert genau dann, wenn γ<1 ist.

Man substituiert u=1x in 3.7.8:

Mit dudx=x2 ergibt sich

α1xγdx =α1xγ+2(x2)dx =x=αx=1u(x)γ2dudxdx =u=1/αu=1/1uγ2du =11/α1u2γdu.

Nach 3.7.8 konvergiert unser uneigentliches Integral genau dann, wenn 2γ>1, also wenn γ<1 ist.

Die Beispiele 3.7.8 und 3.7.9 liefern oft brauchbare konvergente Majoranten bzw. divergente Minoranten.

3.7.10. Beispiel.

Für alle xR gilt cosxx2+1 |cosx|x2+1 1x2 und damit |cosxx2+1|1x2.

Das Integral 1+1x2dx konvergiert nach 3.7.8 (wir setzen γ=2).

Nach dem Majoranten-Kriterium 3.7.5.3 konvergiert auch das Integral 1+cosxx2+1dx (sogar absolut).

3.7.11. Grenzwertkriterium.

Die Funktionen f und g seien im Intervall [a,b) stetig und positiv, außerdem gelte

limxb0f(x)g(x)=CR.

Im Fall C>0 haben ab0f(x)dx und ab0g(x)dx das gleiche Konvergenzverhalten

(aber evtl. verschiedene Grenzwerte).

Im Fall C=0 folgt aus der Konvergenz von ab0g(x)dx die Konvergenz von ab0f(x)dx.

Diese Aussagen gelten analog für links halboffene Intervalle.

Beweis als Übung zum Umgang mit Fehlerschranken.

Sei zuerst C>0, dann gibt es zu ε:=C2 ein k[a,b) mit x[k,b): Cε<f(x)g(x) <C+ε.

Folglich gilt

x[k,b): C2g(x)<f(x) <3C2g(x).

Das Majoranten-Kriterium 3.7.5 liefert nun

kb0f(x)dx konvergent C2kb0g(x)dx konvergent kb0g(x)dx konvergent 3C2kb0g(x)dx konvergent kb0f(x)dx konvergent.

Also konvergiert das Integral über f genau dann, wenn das Integral über g konvergiert.

Jetzt betrachten wir den Fall C=0.

Zu ε:=1 finden wir k[a,b) mit

x[k,b): f(x)g(x)<1;

also f(x)<g(x).

Aus dem Majoranten-Kriterium 3.7.5 folgt nun

kb0g(x)dx konvergent kb0f(x)dx konvergent.

Unsere Stetigkeitsvoraussetzung sichert die Existenz von akg(x)dx und akf(x)dx.

Damit folgt die Behauptung.

3.7.12. Beispiel.

Das Integral 0+0+ettα1dt konvergiert genau dann, wenn α>0 gilt.

Man zerlegt das Integral in I1:=0+01ettα1dt und I2:=1+ettα1dt

und benutzt

limt0+0ettα1tα1 =limt0+0et =1.

Das Grenzwertkriterium 3.7.11 sagt, dass I1 und 0+01tα1dt das gleiche Konvergenzverhalten haben.

Nach 3.7.9 existiert also I1 genau dann, wenn α>0.

Das Integral I2 konvergiert für jedes αR:

Für NN mit Nα+1 liefert 2.5.6:

0limt+ettα1t2 =limt+ettα+11 =limt+tα+1et limt+tNet =0.

Das Grenzwertkriterium und 3.7.8 liefern die Konvergenz.

Funktionsgraph Funktionsgraph
α=0 α=12

Obwohl die Graphen für α=0 und α=12 recht ähnlich aussehen, ist das Konvergenzverhalten der uneigentlichen Integrale verschieden.

Funktionsgraph Funktionsgraph
α=1 α=2

3.7.13. Bemerkung.

Für α>0 ist nach 3.7.12 durch

Γ(α):=0+0+ettα1dt

eine reelle Zahl definiert, wir erhalten damit eine Funktion

Γ:(0,+)R:xΓ(x).

Diese Gamma-Funktion ist eine (leicht verschobene) Fortsetzung der Fakultät:

Es gilt

nN0 Γ(n+1)=n!

Allgemein erfüllt die Γ-Funktion die Funktionalgleichung

x(0,+) Γ(x+1)=xΓ(x).

[Das sieht man durch partielle Integration.]

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