2.6. Taylorreihen

In vielen technischen oder physikalischen Anwendungen werden Terme höherer Ordnung ignoriert, um einfachere (oder überhaupt handhabbare) Formeln zu bekommen.

Den Hintergrund (und die Grundlage für eine Kontrolle des entstehenden Fehlers) bietet der folgende Satz.

2.6.1. Satz von Taylor.

Es sei f:[a,b]R eine n+1 mal stetig differenzierbare Funktion.

Dann gibt es für jedes Paar (x,x0) von Zahlen im Intervall (a,b) eine Zahl ϑx,x0 mit 0<ϑx,x0<1 so, dass gilt:

f(x)=(k=0nf(k)(x0)k!(xx0)k) +f(n+1)(x0+ϑx,x0(xx0))(n+1)!(xx0)n+1.

2.6.2. Definition.

Man nennt

Tn(f,x,x0) :=k=0nf(k)(x0)k!(xx0)k

das Taylorpolynom der Stufe n um den Entwicklungspunkt x0.

Rn(f,x,x0) :=f(n+1)(x0+ϑx,x0(xx0))(n+1)!(xx0)n+1

wird als Restglied nach Lagrange bezeichnet.

Das Restglied gibt den Fehler an, den man macht, wenn man statt der komplizierten Funktion f das (wesentlich einfacher und billiger auszuwertende) Polynom Tn(f,x,x0) verwendet.
Um von der Vereinfachung zu profitieren, wird man das Restglied nicht exakt berechnen, sondern den Fehler (eventuell ziemlich grob) abschätzen.

2.6.3. Bemerkungen.

2.6.4. Spezialfall.

Für x0=0 haben Taylorpolynom und Restglied die folgende Gestalt:

Tn(f,x,0)=k=0nf(k)(0)k!xk

Rn(f,x,0)=f(n+1)(ϑx,0x)(n+1)!xn+1.

Interaktives Extra

In der folgenden Darstellung können Sie durch Einstellen von a, b, c und d eine Funktion f aus vier gegebenen Funktionen linear kombinieren (ja, ich nutze hier die Gelegenheit, Sie sachte an die lineare Algebra zu erinnern), die Stufe des Taylorpolynoms auswählen und den Entwicklungspunkt x0 verändern.
Versuchen Sie dann, die Challenge zu meistern!

2.6.5. Beispiele.

Wir berechnen das Taylorpolynom der Stufe 3 und das zugehörige Restglied für f(x)=1+x am Entwicklungspunkt x0=0:

f(x)=0011(1+x)12

f(x)=1112(1+x)12

f(x)=1114(1+x)32

f(x)=1138(1+x)52

f(4)(x)=1516(1+x)72

Daher ist

T3(f,x,0) =1+12x18x2+116x3

und

R3(f,x,0) =5x4128(1+ϑx,0x)72.

In der folgenden Skizze sieht man den Graph der Funktion

f(x)=1+x

sowie die Taylorpolynome

T0(f,x,0)=1,

T1(f,x,0)=1+12x,

T2(f,x,0)=1+12x18x2

und

T3(f,x,0)=1+12x18x2+116x3:

Taylor-Polynome zur Wurzelfunktion

Die Taylorpolynome für die hier vorliegende Funktion sind Partialsummen der binomischen Reihe zum Exponenten α=12 (siehe 1.14.16):

Wegen

(1/20)=1,

(1/21)=1/21=12,

(1/22)=1/2(1/21)12=18,

(1/23)=1/2(1/21)(1/22)123=116,

gilt

n=03(1/2n)xn =1+12x18x2+116x3.

Mit steigender Stufe scheinen die Taylorpolynome die gegebene Funktion f immer besser zu approximieren.

Für viele Funktionen ist das tatsächlich wahr — wir brauchen dazu natürlich mindestens, dass die Funktion beliebig oft differenzierbar ist.

2.6.6. Definition.

Die Funktion f:[a,b]R sei beliebig oft differenzierbar.

Für x0(a,b) heißt dann die Potenzreihe

T(f,x,x0) :=k=0f(k)(x0)k!(xx0)k

die Taylorreihe der Funktion f um den Entwicklungspunkt x0.

Offenbar gilt:

2.6.7. Satz.

Die Taylorreihe T(f,x,x0) konvergiert für ein gegebenes x genau dann gegen f(x), wenn gilt:

limnRn(f,x,x0)=0.

Man wird also versuchen, das Intervall [a,b] so zu wählen, dass für alle x[a,b] das Restglied gegen 0 konvergiert — und das auch noch möglichst schnell.

Genauere Untersuchungen finden im Rahmen der Numerik statt.

2.6.8. Beispiele.

In den folgenden Skizzen ist außer dem Graph von f (rot) jeweils das Taylorpolynom T2(f,x,1) zweiter Stufe am Entwicklungspunkt x0=1 (blau) und das Restglied (grün) eingetragen.

Das Restglied gibt den Fehler an, den man in Kauf nimmt, wenn man die Funktion durch das Taylorpolynom ersetzt.

f(x)=sin(2x) Taylor-Polynome zur Sinusfunktion

f(x)=14cos(5x) Taylor-Polynome zur Cosinusfunktion

f(x)=110x4 Taylor-Polynome zu einem Polynom

f(x)=140x3(6lnx11)+710 Taylor-Polynome

Bei der zuletzt gezeigten Funktion ist die Passung des Taylorpolynoms der Stufe 2 in der betrachteten Umgebung erfreulich gut.

Das ist allerdings nur in dieser Umgebung richtig:

f(x)=140x3(6lnx11)+710 Taylor-Polynome

Die dritte Ableitung der betrachteten Funktion ist übrigens

f(3)(x)=910ln(x),

also nicht mehr stetig nach 0 fortsetzbar.

Die Funktionen f(0), f(1), f(2) haben stetige Fortsetzungen an der Stelle x=0; die Fortsetzungen von f(0) und f(1) sind auch differenzierbar in x=0.

Als Intervall zur Taylorentwicklung müssen wir also ein Intervall [a,b] mit a>0 wählen.

Dass Taylorpolynome nur in kleinen Umgebungen gut zur gegebenen Funktion passen, ist ein allgemeines Phänomen:

f(x)=sin(2x)

f(x)=14cos(5x)

Wenn die Taylorreihe T(f,x,x0) einer Funktion f in einem Intervall gegen f(x) konvergiert, so wird f in diesem Intervall durch eine Potenzreihe beschrieben.

Die Koeffizienten sind dann auch eindeutig bestimmt:

2.6.9. Eindeutigkeitssatz für Potenzreihen.

Die Funktion f:(x0ρ,x0+ρ)R werde durch eine (reelle) Potenzreihe dargestellt:

f(x)=k=0ak(xx0)k.

Dabei sei ρ der Konvergenzradius, also (x0ρ,x0+ρ)=RUρ(x0).

Dann ist f im Intervall (x0ρ,x0+ρ) beliebig oft differenzierbar.

Die Koeffizienten der Potenzreihe stimmen mit den Koeffizienten der Taylorreihe überein:

k0: ak=f(k)(x0)k!.

Insbesondere gilt:
Stimmen die durch zwei Potenzreihen k=0ak(xx0)k und k=0bk(xx0)k definierten Funktionen auf einem nicht leeren, offenen Intervall überein, so sind alle Koeffizienten gleich:

k0:ak=bk.

Im (Beweis für den) Eindeutigkeitssatz für Potenzreihen benutzt man die folgende Tatsache, die auch sonst sehr nützlich ist:

2.6.10. Differentiation von Potenzreihen.

Es sei (an)nN0 eine Folge reeller Koeffizienten, und es sei x0R.

Der Konvergenzradius der Potenzreihe n=0an(xx0)n sei mit ρ bezeichnet.

Dann ist die Funktion

f:Uρ(x0)RR: xn=0an(xx0)n

beliebig oft differenzierbar, und es gilt

f(x)=n=1ann(xx0)n1 =k=0(k+1)ak+1(xx0)k.

2.6.11. Taylorreihe und DGL der Exponentialfunktion.

Als wichtigste Eigenschaft der Exponentialfunktion halten wir fest, dass diese die DGL f=f erfüllt.

Diese DGL hat viele Lösungen, die „richtige“ Lösung wird durch die Anfangsbedingung f(0)=1 ausgewählt.

Durch diese beiden Eigenschaften allein ist die Exponentialfunktion aber auch schon eindeutig festgelegt:

Es ergibt sich die Taylorreihe

T(f,x,0) =k=0f(k)(0)k!xk =k=01k!xk.

Wir wollen aber auch überpüfen, ob diese Potenzreihe wirklich die gewünschte Funktion darstellt (siehe 2.6.12 als warnendes Beispiel).

Wegen 0ϑx,0<1 gilt ϑx,0x[|x|,|x|].

Da f(n)=f differenzierbar und deswegen stetig ist, existiert mx:=max{|f(t)|||f(t)|t[|x|,|x|]t[|x|,|x|]}, nach dem Satz vom Maximum und Minimum 1.13.12, und es gilt |f(ϑx,0x)|mx.

Damit sehen wir, dass die Folge der Restglieder konvergiert:

|Rn(f,x,0)| =|f(n+1)(ϑx,0x)(n+1)!xn+1| =|f(ϑx,0x)(n+1)!xn+1| mx|x|n+1(n+1)! n0.

Also wird f durch die Potenzreihe exp dargestellt:

xR: f(x) =k=01k!xk =exp(x) =ex.

Damit ist auch unsere Definition 1.14.10 der Exponentialfunktion im Komplexen gerechtfertigt.

Analog zeigt man ausgehend von der Differentialgleichung f=f (die sowohl cos als auch sin erfüllen) sowie den Anfangsbedingungen f(0)=0 und f(0)=1 (die den Sinus unter den Lösungen der Differentialgleichung auszeichnen), dass die Funktion sin (und analog cos) tatsächlich durch die in 1.14.17 angegebene Potenzreihe beschrieben wird.

Es kommt vor, dass die Taylorreihe einer Funktion an einer Stelle x zwar konvergiert, aber nicht gegen den Funktionswert f(x):

2.6.12. Beispiel.

Die Funktion f:R{0}R sei gegeben durch

f(x)= {exp(1x2) falls x>0,exp0 falls x<0.

Diese Funktion ist in die „Klebestelle“ x0=0 hinein stetig fortsetzbar durch f(0):=0.

Die Fortsetzung ist dann beliebig oft differenzierbar, es gilt f(k)(0)=0 für alle k.

Alle Koeffizienten der Taylorreihe T(f,x,0) sind also Null, und T(f,x,0) beschreibt die Nullfunktion: Das ist nicht f.

eine Funktion, die nicht durch ihre Taylorreihe dargestellt wird

2.6.13. Die Taylorreihe des Logarithmus.

Wir betrachten f:[12,1]R:xln(1+x).

Mit Hilfe vollständiger Induktion zeigt man

k1: f(k)(x)=(1)k1(k1)!(1+x)k.

Somit ergibt sich die Taylorreihe als T(f,x,0)= ln(1) +n=1(1)n1(n1)!n!(1+0)nxn =n=1(1)n1xnn.

Das Restglied ist

Rn(f,x,0) =f(n+1)(ϑx)(n+1)!xn+1 =(1)nn!xn+1(1+ϑx)n+1(n+1)! =(1)nn+1(x1+ϑx)n+1

mit ϑ:=ϑx,0.

Für 0x1 gilt |x1+ϑx|1.

Für 12x<0 erhält man |x|=x 12 1+x <1+ϑx und damit wieder |x1+ϑx|1,

in jedem Fall also |Rn(f,x,0)|1n+1.

Folglich konvergiert das Restglied für jedes x[12,1] gegen 0, und die Taylorreihe stellt f dar (auf dem ganzen Intervall [12,1]).

2.6.14. Bemerkung.

Setzt man in die Potenzreihe

ln(1+x)= n=1(1)n1xnn

den Wert x=1 ein, so erhält man

ln2 =ln(1+1) =112+1314+15

Damit haben wir die Summe der alternierenden harmonischen Reihe bestimmt!

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