1.13. Eigenschaften stetiger Funktionen

Bevor wir uns genauer mit stetigen Funktionen befassen, verabreden wir einige Schreibweisen:

1.13.1. Definition.

Es seien a,bR mit ab.

  1. [a,b]:={xR|xRaxbaxb} heißt abgeschlossenes Intervall (mit Grenzen a und b).
  2. (a,b):={xR|xRa<x<ba<x<b} heißt offenes Intervall (die Grenzen a und b gehören nicht zur Menge).
  3. Es gibt auch halb offene Intervalle:

  4. [a,b):={xR|xRax<bax<b} (halb offenes Intervall),
  5. (a,b]:={xR|xRa<xba<xb} (halb offenes Intervall),

Bei (halb) offenen Intervallen lässt man auch ± als Grenze zu: (,b):={xR|xRx<bx<b}, (,b]:={xR|xRxbxb}, (a,+):={xR|xRa<xa<x}, [a,+):={xR|xRaxax}, (,+):=R.

Es sei f:MR eine Funktion.

Es stellen sich die folgenden grundsätzlichen Probleme:

1.13.2. Nullstellenproblem.

Gibt es xM mit f(x)=0 ?

Wenn ja: Wie berechnet / findet man diese Nullstellen?

1.13.3. Lösbarkeitsproblem.

Kann man zu gegebenem aR die Gleichung f(x)=a lösen?

Das Nullstellenproblem ist ein Spezialfall (a=0), umgekehrt kann man das allgemeine Lösbarkeitsproblem auf das Nullstellenproblem für die durch g(x):=f(x)a gegebene Funktion g:MR reduzieren.

1.13.4. Gleichheitsproblem.

Gibt es für zwei Funktionen f,g:MR eine Stelle xM, an der die beiden denselben Wert annehmen?

Auch dieses Problem kann man reduzieren auf das Nullstellenproblem (für die durch d(x):=f(x)g(x) gegebene Funktion d:MR).

Für beliebige Funktionen ist das Nullstellenproblem sehr schwierig. Anders für stetige Funktionen: Hier gibt es allgemeine (abstrakte) Existenzsätze für Nullstellen, aus denen sich Algorithmen zur Approximation dieser Nullstellen entwickeln lassen. Hat man Existenzsätze (oder Algorithmen) für Nullstellen, so kann man damit auch das allgemeine Lösbarkeitsproblem und das Gleichheitsproblem angehen.

1.13.5. Nullstellensatz von Bolzano.

Es sei f:MR stetig, außerdem gelte f(a)0 und f(b)0. Dann gibt es ξ[a,b] mit f(ξ)=0.

Zur Anschauung:

Beispiel zum Nullstellensatz von Bolzano Beispiel zum Nullstellensatz von Bolzano

Beim Nullstellensatz von Bolzano ist die Stetigkeit der Funktion wichtig — und genauso die Annahme, dass der Definitionsbereich ein Intervall ist!

Gegen-Beispiel zum Nullstellensatz von Bolzano Gegen-Beispiel zum Nullstellensatz von Bolzano

Wir erhalten sofort eine Anwendung auf das Lösbarkeitsproblem:

1.13.6. Zwischenwertsatz.

Es sei f:[a,b]R stetig, und es gelte f(a)f(b). Dann nimmt f jeden Wert zwischen f(a) und f(b) mindestens einmal an.

Mit anderen Worten: Zu jedem y0[f(b),f(a)] gibt es x0[a,b] mit f(x0)=y0.

Eine raffiniertere Anwendung des Nullstellensatzes bzw. des Zwischenwertsatzes auf das Gleichheitsproblem finden Sie hier als interaktive Seite.

Die bequemste Methode, das Lösbarkeitsproblem zu bewältigen, wäre eine Inverse zur Abbildung f:

1.13.7. Definition.

Es sei f:XY eine Funktion.

Eine Funktion g:YX heißt Umkehrfunktion von f (bezeichnet mit g=f1 ), wenn gilt:

xX:g(f(x))=x yY:f(g(y))=y.

Mit anderen Worten: Es gilt gf=id|X und fg=id|Y.

Warnung:

Man darf die Schreibweise f1 nicht mit 1f verwechseln, das sind völlig verschiedene Dinge!

Eine Umkehrfunktion f1 gibt es genau dann, wenn f bijektiv (also surjektiv und injektiv) ist.

Man kann jede Funktion f:XY surjektiv machen, indem man sie als Funktion von X nach f(X) betrachtet. Die Injektivität ist also der Knackpunkt bei der Frage nach der Existenz einer Umkehrfunktion.

1.13.8. Beispiel.

Die Funktion f:RR:xx2 ist weder injektiv noch surjektiv, liefert aber eine surjektive Funktion von R nach f(R)=[0,+).

Durch geeignete Einschränkungen erhält man bijektive Funktionen:

Die Umkehrfunktion zu g:[0,+)[0,+):xx2 ist g1:[0,+)[0,+):xx.

Die Umkehrfunktion zu h:(,0][0,+):xx2 ist h1:[0,+)(,0]:xx.

1.13.9. Beispiel.

Die injektive Funktion f:RR:xex ist nicht surjektiv, wir erhalten aber eine bijektive Funktion exp:R(0,+):xex mit Umkehrfunktion ln:(0,+)R:xlnx.

Graph der Exponentialfunktion und ihrer Umkehrfunktion

Generell gilt: Wenn die Umkehrfunktion f1 existiert, erhält man deren Graph durch Spiegelung des Graphen von f an der ersten Winkelhalbierenden.

1.13.10. Beispiel.

Die Funktion f:RR:xx3 ist bijektiv.

Um die Injektivität einzusehen, betrachten wir x1,x2R mit x1x2: Wir können etwa x1<x2 annehmen.

Dann gilt auch f(x1)=x13<x23=f(x2); insbesondere also f(x1)f(x2).

Die Surjektivität folgt aus dem Zwischenwertsatz:

Man muss sich nur klar machen, dass es zu jeder reellen Zahl y Zahlen x1,x2R mit x13yx23 gibt.

Wegen limnn3=+ kann man sogar x1,x2Z finden.

Graph einer streng monotonen Funktion

Wir verallgemeinern:

1.13.11. Satz.

Es sei f:[a,b]R stetig. Dann ist f genau dann injektiv, wenn f streng monoton (steigend oder fallend) ist.

In diesem Fall liefert f eine Bijektion von [a,b] auf f([a,b]), und es gilt f([a,b])=[f(a),f(b)] bzw. f([a,b])=[f(b),f(a)] — je nachdem, ob f steigt oder fällt.

1.13.12. Weierstraßscher Satz vom Minimum und Maximum.

Ist f:[a,b]R stetig, so nimmt f auf dem Intervall ein Minimum und ein Maximum an:

Es gibt ξ1,ξ2[a,b] so, dass x[a,b]: f(ξ1)f(x)f(ξ2),

Aus dem Nullstellensatz von Bolzano (1.13.5) ergibt sich die folgende Methode zur Nullstellenbestimmung:

1.13.13. Intervallhalbierungsmethode.

Es sei f:[a,b]R stetig, und es gelte f(a)f(b)<0.

Dann besitzt f im Intervall (a,b) mindestens eine Nullstelle.

Eine gegen eine Nullstelle konvergente Folge (aj)jN erhält man rekursiv:

Setze a1:=a und b1:=b.

Aus aj und bj bestimmt man aj+1 und bj+1 folgendermaßen:

  1. Falls f(aj)f(aj+bj2)0:
    Setze aj+1:=aj und bj+1:=aj+bj2.
  2. Falls f(aj)f(aj+bj2)>0:
    Setze aj+1:=aj+bj2 und bj+1:=bj.

In der folgenden Skizze können Sie die „Startwerte” a1 und b1 ändern.

1.13.14. Bemerkung.

Wenn man mehr über die Funktion weiß (zum Beispiel Differenzierbarkeit), kann man erheblich schnellere Verfahren zur Nullstellenbestimmung finden.

Ein sehr prominentes Beispiel ist das Newton-Verfahren 2.9.1.

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